Der dīvān-ı ṭālib des Simeonakis Değirmencioğlu
Autor: Johannes Niehoff-Panagiotidis
28. August 2020
Für Achim Gehrke zum 28. Oktober 2020
Griechen und Türken sind Gegensätze – oder?
Dass die Angehörigen beider Nationen mehr gemein haben als die Gerichte auf dem Esstisch oder das Set von alltäglich-folkloristischen Gewohnheiten für den Anekdotenschatz, ist einer weiteren Öffentlichkeit immer noch unbekannt; auch der wissenschaftlichen. Und dies trotz der Mühen und Veröffentlichungen von Gelehrten wie Evangelia Balta, Matthias Kappler und Dimitri Theodoridis.
Wie sieht es speziell im Bereich der Literatur aus? Dazu muss man sich die Lage der Griechen im Osmanischen Reich vor Augen halten.
Diese war in jeder Hinsicht eine Fortsetzung spätmittelalterlicher Verhältnisse, seit den Seldschuken: Die Byzantiner/Griechen waren als Angehörige der ahl aḏ-ḏimma eine geschützte Gruppe, die Autonomie und weitgehende Rechte genoss. Freilich auch Beschränkungen: In den Staatsdienst ging sie erst in spätosmanischer Zeit, prominent etwa durch die Chioter Familie Mavrokordatos. Ihre Rolle ähnelte derjenigen der Armenier und Juden. Sie veränderte sich naheliegenderweise im Laufe der Zeit; dazu lese man Pietro de la Valle. Doch waren sie auf dem Balkan, den Inseln im Mittelmeer und im Westen und Norden Kleinasiens oft die Mehrheit. Da die Osmanen die Reichszentrale und Elemente der alten Elite übernommen hatten, war ihre Stellung in Konstantinopel/Istanbul und Smyrna/Izmir stark. Eine große Rolle spielte das Patriarchat im Phanar/Fener.
Dies alles ist weitgehend bekannt. Was waren die literarischen Konsequenzen?
Unsere Literaturwissenschaften denken in Nationalliteraturen, in Nationalsprachen. Das funktioniert bereits für Adalbert Stifter, Robert Musil und Italo Svevo nicht. Auch nicht für Franz Kafka. Dafür hat man im Falle des Habsburgerreiches längst Konsequenzen gezogen, wie sie etwa der österreichische Literaturwissenschaftler Peter V. Zima vertritt. Sie sind auf das Osmanenreich anzuwenden, mutatis mutandis.
Viel verändert werden muss da nicht: Zunächst einmal ist der Gebrauch der türkischen und der griechischen Sprache unabhängig von der Religionszugehörigkeit oder gar von einer Nation: Zahlreiche Osmanen beherrschten das Griechische; und zahlreiche orthodoxe Christen das Türkische. Jetzt fragt sich: Welche Form dieser Sprachen? Das geschriebene Griechisch jener Zeit entsprach weitgehend der spätbyzantinischen Norm, vertreten durch die Kirche. Das Ergebnis ist weitgehend das Altgriechische. Nur in den venezianischen Gebieten gebrauchte man die Volkssprache auch schriftlich, etwa für das kretische Theater. Diese Literatur ist weitgehend im Dialekt gehalten, bisweilen gar in lateinischer Schrift.
Das Türkische in seiner osmanischen Ausprägung betritt die Bühne der islamischen Schriftsprachen ganz spät. Vor dem 15. Jahrhundert gibt es ganz wenige Zeugnisse. Das geschriebene Osmanisch ist dann stark vom Persischen und Arabischen geprägt. Die Rolle der klassischen Sprachen (Arabisch und Persisch hier, Altgriechisch dort) war demnach vergleichbar: Wer Griechisch oder Türkisch nur auf mündlichem Wege lernte, dem war die klassische Literatur, seien es Homer und Herodot oder Ḥāfeẓ und Fużūlī, verschlossen. Eine besondere Stellung nahmen die jeweiligen Heiligen Schriften ein.
Es ist mit einer großen Bevölkerungsgruppe zu rechnen, die
- muslimisch war, aber Griechisch als Muttersprache sprach;
- christlich war, aber als Primärsprache das Türkische hatte.
Beide Gruppen fügen sich bis heute nicht in eine nationale Sprach- und Literaturgeschichtsschreibung ein.
Wichtig sind die zeitlichen und lokalen Unterschiede, will man nicht auf populäre Bezeichnungen hereinfallen: V. a. auf Kreta und in Ipiros lebten bis ins 20. Jahrhundert gräkophone Muslime. Populärbezeichnung: Τουρκο- (Tourko-), anschließend die Lokalbenennung, also Τουρκοκρητικοί (Tourkokritikí, ‚kretischer Türke‘) usw. „Türke“ meint hier: Muslim. Noch heute bedeutet τουρκεύω (tourkevo) „zum Islam konvertieren“.
Das Türkische der Orthodoxen (und Armenier) ist schon im 12. Jahrhundert als Muttersprache bezeugt; der Populärtitel Καραμανλίδικα (Karamanlídika) ist zumindest ungenau. Längst nicht alle turkophonen Christen stammten aus oder siedelten in dieser Landschaft.
Die nächste Ebene ist die wichtigste: Türkisch- und Griechischsprecher begannen nun, ihre Muttersprache zu schreiben, dann in literarischer Funktion zu verwenden und schließlich auch zu drucken. Da Schreiben und Lesen religionsabhängig war, schrieben die turkophonen Christen in griechischer, die gräkophonen Muslime in arabisch-persischer Schrift. Stark ist der Anteil der Dialekte, ebenso derjenige der mündlichen Tradition. Auf muslimischer Seite ist der Anteil der Sufi-Orden (ṭariqāṭ) groß, schrieb doch Mevlānās Sohn auch auf Griechisch – bevor das Osmanische recht zur Literatursprache wurde. Ebenso bedeutsam die Rolle der Kirche, des Patriarchats: Die orthodoxe Herde Innerkleinasiens verstand schon im Spätmittelalter eine griechische Predigt nicht mehr. Daher die Rolle der Kirche beim Druck dieser Werke – zumeist in Venedig. Das erste „karamanlidische“ Buch wurde bereits 1584 gedruckt. Das Meiste ist daher nicht literarischer, sondern pastoraltheologischer Natur. Gedruckt wurden islamisch-griechische Werke dagegen nicht, bis ins 19. Jahrhundert hinein.
Die gräkophone Literatur im arabischen Alphabet trägt durchweg den Stempel des mystischen Islam: Gesänge auf die Geburt des Propheten (mevlüdnāme), seine Himmelreise (miʽrāǧnāme); aus Jannina wissen wir von einem griechischen Koran. Diese Literatur, in türkischen Literaturgeschichten unerwähnt, gehört in die Linie eines Yunus Emre.
Die turkophone Literatur der Christen gehört zur postbyzantinischen Literatur und erscheint ebensowenig wie ihre islamische Schwester in neugriechischen Literaturgeschichten, wo hingegen die kretische und zypriotische Literatur als Renaissanceliteratur liebevoll beschrieben wird. Sie wurde spätestens im 19. Jahrhundert als wichtigster Zweig im Stammbaum der Nationalliteratur Griechenlands entdeckt.
So recht wurde die Schwelle der Literarizität für das Türkische in griechischer Schrift erst im 19. Jahrhundert überschritten, als die Christen die Reformen im Osmanischen Reich (tanżīmāt) benutzten, sich in die osmanische Kultur einzufügen – wenn sie sich nicht dem Prozess des nation building anschlossen. Es bestanden demnach seit den phanariotischen Aufklärern vom Ende des 18. Jahrhundert mehrere Identitätsangebote an die Griechen Kleinasiens (Rūm), die Herausforderungen der Moderne zu bewältigen. Eine konnte darin bestehen, nunmehr die literarischen Regeln der osmanischen Literatur für die Christen zu übernehmen: In griechischer Sprache nach osmanischen Regeln zu dichten oder Romane zu schreiben.
Im Jahre 1883 erschien in Konstantinopel das folgende Buch, dessen Titelblatt wir hier geben:
Demnach druckte der bekannte osmanische Drucker Evangelinos Misailidis aus Kula die Gedichtsammlung des Simeon/Simeonaki Efendi Değirmencioğlu aus Denei in seiner Druckerei in Istanbul, hier prätentiös „Dārü’s-saʽādet“ (Pforte der Glückseligkeit) genannt. Auf eigene Kosten – im Anhang findet sich eine Liste der Subskribenten, davon viele aus der Heimat des jung verstorbenen Dichters. Darunter sind viele Mitglieder seiner Familie, zumeist aus der Gegend von Niğde, Konya und Kayseri; manche lebten schon in Istanbul. Denn der Autor, wohl 1855 oder 1857 geboren, verstarb mit 28 Jahren, ohne sein Werk gedruckt gesehen zu haben. Darüber informiert ein Postscript auf Seite 191 der Erstpublikation. Sein jüngerer Bruder, er trug den für turkophone Christen typischen Namen „Arslan Leonidis“, verfertigte ein Glossar schwieriger, das heißt arabischer und persischer, Lexeme, das am Ende des Haupttextes folgt (ʽarebi ve farisi loğatlarin Türkçeye şerhi olup).
Denn das Werk des jung verstorbenen Symeon/Symeonaki Aleksizade (das heißt, sein Vater hieß Alexios) ist ein Vertreter der im 19. Jahrhundert erfolgenden Angleichung volkstümlicher Literaturformen der aşık aus dem Dervischmilieu an die Formen der hochosmanischen Hofpoesie des Divan. Das sieht man, wie dies Matthias Kappler (dem wir hier folgen) bereits herausgefunden hat, schon im Formalen: Die meisten Gedichte (127 von 153, vgl. Kappler 2018[1], S. 143) folgen dem arabisch-persisch – osmanischen Metrum, dem ʽarūż. Vertreten sind die klassischen Genera: ġazel, divan, müfret usw. Dagegen ist das originaltürkische koşma nur sehr selten, nämlich neunmal, vertreten. Der Reim, der Endbuchstabe (kāfī, redīf) folgen der Tradition türkisch-islamischer Technik. Freilich verbleibt Simeon auch dadurch zwischen etablierten Kategorisierungen, dass er die später in der republikanischen Türkei übliche Trennung zwischen volkstümlicher („türkischer“) und gelehrter osmanischer Poesie überschreitet. Er gehört damit zu den kalem şairi. Kappler hat überzeugend gezeigt, dass diese nationalen Kategorien auch im Falle des Simeon Degirmencioglu nicht greifen. Der Autor ist eine literaturwissenschaftliche Provokation.
Viele der Gedichte sind religiös – es handelt sich um fromme Arbeiten eines gläubigen Orthodoxen. Darunter befindet sich ein Gedicht auf die Geburt Johannes des Täufers und eine Versifizierung des Credos auf den Seiten 21–24 der Erstausgabe. Als Gattungsbezeichnung heißen sie dīvānī qaṣīde und ġazelī qaṣīde. Dabei ist die religiöse Terminologie, wie bei den Karamanliden üblich, eine Kombination aus griechischen, arabischen, persischen und türkischen Elementen: So ist das persische ḫodāi für „Gott“ bei Simeonaki Effendi ganz gewöhnlich.
Nach dem Tode des Simeon, der seine Widmungsbriefe noch am 25. August 1883 in Konya geschrieben hatte[2], wurde die Angleichung an die osmanischen Gewohnheiten noch stärker: In der Erstauflage ist die Reihenfolge der Gedichte streng alphabetisch und gattungsunabhängig. Durchgehalten ist das griechische Alphabet (was bei Endkonsonanten wie θ schwierig wird). In der zweiten oder dritten Auflage von 1911 wird die Ordnung primär nach Gattungen, dann nach dem Reim durchgeführt. Das ist osmanisch.
Das Resultat sieht dann wie folgt aus (S. 133, seit 1911 unveröffentlicht):
Das ergibt, leidlich in modernes Türkisch übertragen:
Kalenderi mühammes
Gül veche eden tamaşa gözlere gülü ver/
Elbette solar kalursa gözlere gülü ver/
Pervane gibi kendini sūzlere [yangine] gülü ver.
„Den Augen, die sich dem Rosengesicht zuwenden, gib die Rose/
Ist sie freilich verwelkt, gib den Augen die Rose/
Wie der Falter sich selbst, gib Dich den Flammen hin, gib die Rose.“
Hier findet sich alles beisammen: Die persische Verbindung von Flamme und Falter, die Rose als Liebessymbol. Auch der türkische, kaum übersetzbare Gleichklang gülmek (‚lächeln‘) und gül (‚Rose‘) wird verwendet. Durchgängig verwendet ist mithin der īhām: gülü ver „gib die Rose“ vs. „fang an zu lächeln.“ Läse man das Gedicht im Stile der Kalender-Derwische in lateinischer oder osmanischer Schrift, würde niemand im Verfasser einen Christen vermuten.
Das Gedicht ist sicher mystisch zu verstehen und gemahnt an Rumi. Doch ähneln sich christliche und islamische Mystik so selten nicht.
Wenn der dīvān-ı ṭālib einmal ediert, übersetzt und kommentiert sein wird, kann man die Beziehungen zwischen türkischer und griechischer Literatur besser verstehen. Dafür ist es an der Zeit.[3]
[1] Kappler, Matthias (2018): “The Karamanli Divan by the ʽAşık Talib and Ottoman Lyric Poetry: A Preliminary Approach”, in: Evangelia Balta (ed.): Karamanlidika Legacies, Istanbul: The Isis Press, 141–166.
[2] Der Entdecker des Divans, M. Sabri Koz (vgl. Koz, M. Sabri (2014): “Bir Âşık: Tâlib – Bir Karamanlıca Dîvân: Dîvân-ı Tâlib”, in: Evangelia Balta (ed.): Cultural Encounters in the Turkish-Speaking Communities of the Late Ottoman Empire, Istanbul: The Isis Press, 119–135), hat sich näher mit den Familienverhältnissen des Symeonaki Effendi befasst. Dieser hatte außer seinem Bruder noch einen Vetter gleichen Namens, an den der erste Widmungsbrief gerichtet ist. Dass Cousins denselben Namen tragen, ist üblich: Vermutlich hieß der Großvater väterlicherseits ebenfalls Simeon.
[3] Für die zahlreiche Hilfe bei der Arbeit an diesem Aufsatz sei den Mitarbeiter/innen des Orient-Instituts in Istanbul herzlich gedankt. Ein Dank ebenfalls an Matthias Kappler, der die Übersetzung korrigiert hat.
Johannes Niehoff-Panagiotidis ist Professor für Byzantinistik am Institut für Griechische und Lateinische Philologie an der Freien Universität Berlin. Im Wintersemester 2019/20 war Prof. Dr. Niehoff-Panagiotidis Gastwissenschaftler am Orient-Institut Istanbul.
Citation: Niehoff-Panagiotidis, Johannes.“ Auf den Spuren einer vergleichenden türkisch-griechischen Literaturgeschichte der Frühen Neuzeit und des 20. Jahrhunderts,” Orient-Institut Istanbul Blog, 28 August 2020. https://www.oiist.org/auf-den-spuren-einer-vergleichenden-tuerkisch-griechischen-literaturgeschichte-der-fruehen-neuzeit-und-des-20-jahrhunderts-der-divan-i-%e1%b9%adalib-des-simeonakis-degirmencioglu/
Ottoman Empire; Turkey; 19th century; 20th century; literature; Karamanlidika; cultural contact; OII-History & Life Narratives