Verantwortlich: Dr. Alexandre Toumarkine, Till Luge, M.A.
Laufzeit: 2011 – 2017
Hauptkooperationspartner: Prof. Dr. Nathalie Clayer (Centre d’Études Turques, Ottomanes, Balkaniques et Centrasiatiques (CETOBaC), EHESS, Paris)
Seit Februar 2014 unterstützt von: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) & Agence Nationale de la Recherche (ANR)
Untersuchungsobjekt des Projekts sind neue Religiositäten im späten Osmanischen Reich und der Republik Türkei. Unter „neuen Religiositäten“ verstehen wir Phänomene verbunden mit New Age-Praktiken oder -Bewegungen, neuen Formen westlicher oder osmanischer bzw. türkischer Esoterik und Spiritualität sowie dem Millenarismus, aber auch mit Praktiken und religiösen Ideen mit Bezug zu süd- und ostasiatischen Religionen wie Hinduismus oder Buddhismus. Diesen neuen Religiositäten sind in der Regel neue Menschen- und Selbstbilder und auch neue Arten von Körperbewusstsein gemein. Diese religiösen Wandlungsprozesse stehen im Kontext sozio-ökonomischer und politischer Entwicklungen, die durch Globalisierungsphänomene wie neue Kommunikationsmittel und weltweite Mobilität beeinflusst werden. Ziel des Projektes ist es, solche Wandlungsprozesse in einem überwiegend muslimischen Land zu untersuchen. Hierbei werden allerdings nicht nur globale Einflüsse, sondern auch lokale Kontinuitäten in der Entstehung neuer Religiositäten eruiert. Dieser kulturell-religiöse Wandel der Hoch- und Spätmoderne ist für die islamische Welt bisher kaum erforscht. Das Projekt nimmt daher nicht nur eine Vorreiterrolle ein, sondern stellt den ersten Versuch dar, die Vielfalt an Primärquellen sowie soziologischen und ethnographischen Realitäten neuer Religiositäten in der islamischen Welt am Beispiel der Türkei zu erschließen und zu interpretieren.
In Europa ging die ‚Wiederverzauberung’ der frühen Neuzeit vor allem mit der Rezeption indischer Religionen einher. Obwohl dies in der Türkei nicht in gleichem Maße der Fall ist, spielen indische Religionen auch hier eine bedeutende Rolle, sowohl in der Auseinandersetzung mit nicht-abrahamitischen Religionen ab dem Ende des 19. Jahrhundert als auch in der Popularisierung des New Age seit den 1960er Jahren. Wir untersuchen daher die osmanische bzw. türkische Rezeption indischer Religionen, Spiritualitäten und Geistesgeschichte ab dem späten 19. Jahrhundert. Parallel hierzu wird auch die Rezeption des ostasiatischen Buddhismus inklusive seiner Literatur und Ästhetik in der Republik Türkei erforscht.
Während zu den bedeutendsten Strömungen neuer Spiritualitäten im Europa des späten 19. Jahrhunderts neben dem Spiritismus auch die Theosophie zählte, übernahm in der Türkei der Spiritismus die alleinige Schlüsselrolle. Es ist bemerkenswert, dass Istanbul und andere Zentren des Osmanischen Reichs bereits in den 1850er Jahren Teil des sich rasch globalisierenden Spiritismus waren. Darüber hinaus sind der Spiritismus und seine verschiedenen Ausläufer in der Türkei bis heute von zentraler Bedeutung für die Szene alternativer Religiositäten. Doch auch andere Formen westlicher Esoterik und neuer Religiositäten sind in der Türkei spätestens seit der Gründung der Republik von Bedeutung. In diesem Kontext arbeitet das Projekt u.a. an Studien zur türkischen Freimaurerei, zur Verschränkung westlicher und östlicher Esoterik in George Gurdjieffs Lehre, zur Rezeption René Guénons und zur lokalen Verbreitung von Michael Bergs Kabbala.
Das weitaus größte Feld neuer Religiositäten der Gegenwart nimmt der Bereich des New Age und der alternativen Therapien ein. Diese erfreuen sich in der Türkei ebenfalls seit spätestens den 1990er Jahren immenser Beliebtheit. Das vielfältige Angebot an Praktiken, Kursen und Therapien ist in vielen türkischen Metropolen nicht zu übersehen und gerade im Buchhandel in einem Maße repräsentiert, das dem Angebot in westeuropäischen Ländern kaum nachsteht. Im türkischen Kontext lässt sich allerdings beobachten, dass das islamische Erbe einen signifikanten Teil dieses Feldes beeinflusst. Dabei ist zu beachten, dass diese teils noch im Entstehen begriffenen neuen Religiositäten nicht als ‚Synkretismen’ trivialisiert, sondern als genuin lokale Formen des New Age verstanden werden müssen. Dank solcher vielfältig gearteter Anpassungen ist es neuen Religiositäten möglich, sowohl säkulare als auch eher konservativ-muslimische Schichten anzusprechen. Es ist durchaus nicht unüblich, dass sich eine Vielzahl – wenn nicht die Mehrheit – der Ausübenden von New Age-Praktiken als Muslime definieren. Zumindest ein Teil der hier erforschten neuen Religiositäten sind also für viele mit dem Islam im Sinne einer Patchwork-Religiosität durchaus vereinbar. Alternative Therapieformen, seien sie aus westlichen Quellen wie der Esoterik, des New Age oder der Körperkulturbewegung stammend, oder aber aus der islamischen Religionsgeschichte gespeist, sind ebenfalls Objekt unserer Untersuchungen. Wie in unzähligen anderen Ländern ist die „komplementäre und alternative Medizin“ auch in der Türkei Teil eines von der Weltgesundheitsorganisation mitunterstützten Anerkennungsprozesses, in dem auf der Basis vorhergehender Institutionalisierungsprozesse auch kulturalistische/nativistische Ideologien eine in Einzelfällen beträchtliche Rolle spielen.
Da die in diesem Projekt gewählte Begrifflichkeit „neue Religiositäten“ das Untersuchungsobjekt nicht auf die türkische Rezeption westlicher Esoterik oder des westlichen New Age beschränkt, ermöglicht sie einen breiten Blick auf die spirituellen Landschaften des Landes. Diese Breite soll es ermöglichen, neue Religiositäten in ihren globalen und lokalen Kontexten sowohl historisch als auch soziologisch, anthropologisch und kulturwissenschaftlich zu verstehen. Dies erlaubt es dem Projekt, neue Religiositäten auch innerhalb des Islams zu untersuchen. Diese entwickeln sich vielmals unter vergleichbaren soziologischen Vorzeichen, ob in vergleichbaren lokalen Kontexten oder auch als ähnlich geartete Antworten auf die Herausforderungen der Moderne. Dementsprechend sind auch moderne Formen des Sufismus sowie der lokal verwurzelte Spiritualismus Untersuchungsobjekte des Projekts. So stellt der türkische Spiritualismus mit seinem Interesse an der Seele, der Einheit des Seins (vahdet-i vücud) und der Beziehung zwischen Selbst und Gott wichtige lokale Anknüpfungspunkte für die spätere Entfaltung anderer neuer Religiositäten bereit. Der moderne Sufismus hingegen unterliegt unseres Erachtens denselben globalen Prozessen wie neue Religiositäten im Westen und zeigt daher oft sehr ähnliche Formen von Vergemeinschaftung und Selbst-Spiritualität wie das New Age.
Schließlich beschäftigt sich das Projekt auch mit der Frage der ‚Wiederverzauberung’. ‚Wiederverzauberung’ wird hier im Sinne einer Transformation der religiösen bzw. spirituellen Geographie und einer dazu parallel verlaufenden Wandlung des Umweltverständnisses verstanden. Obwohl im soziologischen Sinne nicht immer von der Stadt abgrenzbar, ermöglicht der ländliche Raum durch die Nähe zur Natur neue Formen des spirituellen Lebens und Erlebens, die in alternativen Vergemeinschaftungen erfahren werden, ob kurzzeitig im Sinne von Erholungs- oder Erlebnisurlaub oder aber langfristig im Sinne neuer Lebensarrangements.