Gastwissenschaftler*innen
Erdal Kaynar, Dozent, (University of Strasbourg, Abteilung für Geschichte)
Parlamentarismus, Imperialismus, Autoritarismus: Die exekutivistische Gewichtung des osmanischen Verfassungsdenkens in der zweiten konstitutionellen Periode

Im Zuge eines Projektes zum Verfassungsdenken im Osmanischen Reich im langen 19. Jahrhundert sind meine aktuellen Recherchen den verfassungsgeschichtlichen Entwicklungen der zweiten konstitutionellen Periode gewidmet. Während die osmanische Verfassungsgeschichte rechtsgeschichtlich insbesondere seit den 1980er Jahren gut erforscht ist, sind Untersuchung des Verfassungsdenken als politische Theorie sowie die sozial-politischen und kulturellen Dimensionen der Verfassungsgeschichte noch wenig entwickelt. Die Fokussierung auf große internationale und innenpolitische Krisen rücken zumeist die ideengeschichtliche Aufarbeitung der ersten und insbesondere der zweiten konstitutionellen Periode in den Hintergrund. Dabei stellte die osmanische Verfassung von 1876 trotz ihrer raschen Außerkraftsetzung ein Meilenstein der politischen Modernisierung dar; und dessen Wiedereinführung mit der jungtürkischen Revolution von 1908 änderte die Politik im Nahen Osten und dem Balkan grundlegend, indem sie die parlamentarische Repräsentation zum Souveränitätsprinzip erhob. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Verfassungsdebatten für die Zeit nach 1908 (insbesondere nach der Verfassungsreform von 1909) ist begrenzt. So scheint die Aushebelung parlamentarischer Befugnisse und die Entstehung einer neuen autoritären Staatsstruktur ab 1912 bestenfalls als Produkt von politischen und geopolitischen Gegebenheiten und wird zumeist als langangelegtes Ziel einer machbewussten Elite gedeutet, für die Verfassung und Parlament nicht mehr als ein Lippenbekenntnis waren.
Meine Recherchen gelten den politischen und intellektuellen Entwicklungen im Osmanischen Reich, im Zuge dessen verfassungsrechtlich und ideengeschichtlich eine Vormachtstellung der Exekutive gegenüber der Legislative innerhalb des parlamentarischen Systems begründet wurde. Dieses Verständnis entsprang innenpolitischen Spaltungen sowie konservativen Verfassungstheorien, die weitestgehend internationale Entwicklungen im Verfassungsrecht widerspiegelten, welche die Notwendigkeit einer effektiven Regierungsgewalt in den Vordergrund stellten. Zudem wurde die Hinwendung zur exekutiven Gewalt im Zuge eines außenpolitischen Drucks seitens der Großmächte vollzogen: Zumindest im Teil bedingte der Imperialismus die Entwicklung eines neuartigen Autoritarismus im Osmanischen Reich.
Die Betonung der Exekutive beruhte in einer Fortführung des Legalismus, die den osmanischen Reformprozess im langen 19. Jahrhundert bestimmte, und einer Reinterpretation der Volkssouveränität, die in Folge der verfassungsgeschichtlichen Entwicklung sich als Grundsatz der politischen Legitimität entwickelt hatte. Sie beruhte also nicht auf ein Missverständnis moderner politischer Theorie, sondern ist vielmehr als eine ideologische Antwort auf einen ständigen Krisenzustand und auf die weltweite Krise des Parlamentarismus zu werten.
Promotionsstipendiat*innen
Su Hyeon Cho (Oxford University)
„Heilige und Staaten in einer Plastikschale: Ritual und Liminalität in der Provinz Hatay (Südosttürkei) nach dem Erdbeben“

Meine Doktorarbeit ist eine anthropologische Untersuchung der Frage, was Rituale in Krisenzeiten bedeuten. Im Zentrum meiner Studie steht ein „heiliger Brei“ namens harisa. Indem ich dessen Zubereitung und Verteilung in der Provinz Hatay (Südostürkei) untersuche, erforsche ich, wie eine Reihe alter und neuer Brüche sich zu symbolischen Performanzen verdichten – vor allem im Kontext des Erdbebens, das die Provinz Hatay im Februar 2023 schwer erschütterte. Das reiche rituelle Leben der Provinz Hatay ist bisher häufig als Teil des multi-ethnischen und multi-religiösen Gewebes der Region gefeiert worden. Dabei ist jedoch ein wichtiges Element dieser Riten bisher wenig beachtet worden: das Konzept der „Liminalität“. Ich richte mein Augenmerk auf diesen fehlenden Aspekt in der Erforschung des rituellen Lebens in Hatay, um zu verstehen, warum bis in die Gegenwart an diesen Ritualen festgehalten wird.
Das Kochen von harisa ist seit jeher assoziiert worden mit dem Überschreiten von Schwellen – insbesondere von Schwellen zwischen Leben und Tod, sowohl buchstäblich als auch symbolisch. Der harisa-Brei besteht aus Weizen und zerstoßenem Fleisch. Dies ist die traditionelle Nahrung, die am Aschura-Tag, dem Trauertag, an dem des Todes von Imam Hussein in der Schlacht von Kerbela gedacht wird, gegessen wird. Es ist aber auch die Speise, die zum Anlass der Himmelfahrt Mariens (Surp Asdvadzadzin) oder auch am vierzigsten Tag nach dem Tod eines Angehörigen verteilt und gegessen wird. Es gibt auch zahlreiche andere Anlässe, zu denen harisa gegessen wird, und bei allen handelt es sich um Momente des Übergangs zwischen Leben und Tod. Folglich verkörpert diese zeremonielle Speise die Themen der Wiedergeburt, der Auferstehung und des Weiterlebens (eines Individuums oder der Gemeinschaft).
Es ist deshalb nicht überraschend, dass die Harisa-Speise nach dem katastrophalen Erdbeben im Februar 2023 von vielen Menschen in Hatay als Quelle körperlicher und spiritueller Nahrung an Bedeutung gewann. Während meines Forschungsaufenthalts am Orient-Institut Istanbul werde ich weiter erforschen, wie das Kochen von harisa und andere Rituale das weite Spektrum an Brüchen, Instabilitäten und Liminalitäten in der Region behandeln.
Furkan Işın (Mcgill University)
„Der osmanische Avicenna“: Kemālpaşazāde und intellektuelle Strömungen im Osmanischen Reich des sechzehnten Jahrhunderts

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Das frühe sechzehnte Jahrhundert war eine entscheidende Periode in der osmanischen Geistesgeschichte, die durch die Synthese unterschiedlicher wissenschaftlicher Traditionen und die Integration neuer intellektueller Gattungen in den osmanischen Kontext geprägt war. Dieses Projekt zielt darauf ab, diese Zeit durch das Prisma eines ihrer prominentesten Gelehrten, Kemālpaşazāde (gest. 1534), zu erforschen. Die Werke des als Historiker, oberster Mufti, Theologe, Philosoph und Rechtsgelehrter berühmten Kemālpaşazāde repräsentieren eine Konvergenz verschiedener intellektueller Traditionen. Durch das Studium seiner Werke soll dieses Projekt das osmanische Geistesleben im frühen sechzehnten Jahrhundert näher beleuchten.
Kemālpaşazāde, der als „der Avicenna der Gelehrten von Rūm“ (ʿulemā-yı Rūmuñ İbn-i Sīnāsı) bezeichnet wurde, spielte eine entscheidende Rolle bei der Einführung von Avicennas (gest. 1037) Philosophie in die osmanische intellektuelle Landschaft. Dies ist seiner Auseinandersetzung mit Gelehrten aus der größeren iranischen Hochebene und den arabischsprachigen mamlukischen Ländern zu verdanken, die ihn mit neuen intellektuellen Gattungen bekannt machten. Diese Interaktion war außerdem entscheidend für die Gestaltung seines historiographischen Meisterwerks, der Tevārīḫ-i Āl-i ʿOsmān (Geschichten des Hauses ʿOsmān), in dem er turko-mongolische, islamische und persische Modelle von Königtum synthetisierte, um eine Vision osmanischer Souveränität auf Türkisch zu formulieren. Durch einen multidisziplinären Ansatz, der Textanalyse, Archivforschung und das Studium biographischer Lexika umfasst, analysiert das Projekt Kemālpaşazādes Schriften in verschiedenen Bereichen und die Durchlässigkeit zwischen ihnen. Die Forschung zielt darauf ab, eine Lücke in unserem Verständnis der osmanischen intellektuellen Entwicklungen zu schließen und durch die Erforschung der transregionalen Austauschprozesse, die die osmanische Gelehrsamkeit in dieser Zeit prägten, auch einen Beitrag zu den islamischen und persischen Studien im weiteren Sinne zu leisten.
Sophia Zervas (Harvard University)
Musik und staatliche Kulturpolitik in der Türkei des 21. Jahrhunderts

Mein Forschungsprojekt analysiert die staatliche Kulturpolitik und das Musikleben der Türkei unter dem amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Die Eingriffe des türkischen Staates in das kulturelle Leben während des gesamten 20. Jahrhunderts sind sowohl in der türkischen als auch in der englischsprachigen Literatur allgemein gut dokumentiert. Meine Studie möchte hier eine Forschungslücke mit Bezug auf die jüngste Vergangenheit schließen. Auch wenn Präsident Erdoğan wiederholt den Mangel kultureller Hegemonie seiner Partei beklagt hat, deuten die Strömungen im Kulturbereich darauf hin, dass die AKP bedeutende Fortschritte bei der Durchsetzung ihrer Werte auf dem Feld der Kultur gemacht hat.
Ich versuche aufzuzeigen, wie das Musikleben in der Türkei die sich wandelnden Regierungsziele und -ansätze der AKP widerspiegelt. Dabei behaupte ich, dass Komplexität und Unbestimmtheit in der staatlichen Kulturpolitik, zusammen mit den verschiedenen Nuancen in den Debatten und der musikalischen Praxis türkischer Musiker, ein differenziertes Verständnis von politischen Kategorisierungen und Zugehörigkeiten erfordert.
Mit ethnographischen Methoden und Archivarbeit untersucht mein Projekt die Entwicklungen der staatlichen Kulturpolitik der letzten 20 Jahre und ihre Umsetzung durch das Ministerium für Kultur und Tourismus, TRT (Türkisches Radio und Fernsehen) und RTÜK (Oberster Rundfunk- und Fernsehrat). Folgende Fragen leiten dabei das Projekt: Erstens, welchen Ansatz verfolgt die AKP bei der Überwachung von Musikkonsum und -verbreitung, und welchem Wandel unterlag die Kulturpolitik mit Hinblick auf Musik während der 20-jährigen Regierungszeit der AKP? Gibt es darüber hinaus einen Unterschied zwischen politischen Vorhaben und ihren Umsetzungen? Und schließlich, wie könnte Kulturpolitik Einblicke darüber geben, wie die AKP ihre Macht aufgebaut und erhalten hat? Mit Blick auf die aktuellen globalen populistischen Strömungen möchte ich allgemein eine Grundlage für komparative Studien bieten, die zeigen, wie populistische Politiker ihr kulturelles Kapital nutzen, um die für den Populismus charakteristische Vorstellung des Gegensatzes zwischen Volk und Elite durchzusetzen