31. Mai 2024
Im Herbst 2018 klingelte das Telefon in Gábor Fodors Büro im ungarischen Kulturzentrum in Istanbul. Am anderen Ende der Leitung war ein ungarischer Mann mittleren Alters, der sich vorstellte und Dr. Fodor fragte, ob er jemals von Géza Hegyei gehört habe? Der Anrufer war sicherlich etwas verblüfft, als er dies bejahte, obwohl Fodor seine Aussage sofort relativierte, indem er betonte, dass das Wissen über sein Leben und seine Jahre im Osmanischen Reich noch recht lückenhaft sei. Dies war der Ausgangspunkt für eine umfassendere Untersuchung, die Gábor Fodor einige Monate später in Kontakt mit Hegyeis Urenkel Karoly Aliotti brachte. Einige Tage darauf saß er in Herrn Aliottis Büro in Istanbul, wo er versuchte, zusammenzufassen, wer er war und was seine Absichten waren, – und eine kurze halbe Stunde später verließ Gábor Fodor Herrn Aliotti mit dem Familienarchiv in den Händen.
So begann eine fast fünf Jahre dauernde Recherche, deren Ergebnisse wir in Form einer Ausstellung, eines Buches und eines soeben online erschienen Ausstellungskatalogs präsentieren können, die alle dem Leben des osmanischen Hofpianisten Géza Hegyei gewidmet sind. Im Rahmen dieser Forschungen wurde Fodor von der Musikwissenschaftlerin Prof. Evren Kutlay, der Autorin der ersten umfassenden Biografie über Hegyei, und dem Historiker Dr. Richard Wittmann unterstützt, die ihm die Möglichkeit boten, diesen fast vergessenen ungarischen Künstler durch eine Reihe von wissenschaftlichen Bemühungen, die Vorträge, Veröffentlichungen und musikalische Aufführungen umfassten, in Erinnerung zu rufen.
Wer war der fast vergessene Géza Hegyei?
Géza Hegyei wurde am 26. Oktober 1862 in der ehemaligen ungarischen Stadt Óbecse, dem heutigen Bečej in Serbien, als Sohn einer jüdischen Familie geboren. Seinen ersten Klavierunterricht erhielt er von Henrik Gobbi, einem Schüler Liszts, bevor ihn das Schicksal schließlich zu Franz Liszt selbst an die Ungarische Nationale Musikakademie in Budapest führte. Dieser Glücksfall sollte ihm schließlich eine ganz neue Welt voller Überraschungen und Möglichkeiten eröffnen.
Auf Einladung von György Klapka, dem Helden der ungarischen Revolution von 1848/49, gab Hegyei im Januar 1888 sein erstes Konzert in Konstantinopel im Club Teutonia. Fast zwei Jahre später stand er zum ersten Mal vor Sultan Abdülhamid II. im Yıldız-Theater auf der Bühne. Danach wurde er zum Klavierlehrer der Sultansfamilie und der Istanbuler Elite, zu einem gefeierten Interpreten in westlichen Musiksalons und zu einem regelmäßigen Gast bei Wohltätigkeitskonzerten in Istanbul. Er heiratete Katalina Zygomala, ein Mitglied einer prominenten griechischen Familie der Stadt, die eine seiner besten Schülerinnen wurde und mit der er schließlich fünf Kinder hatte. Seine Heirat eröffnete ihm eine familiäre Verbindung zu Mitgliedern der osmanischen Dynastie wie Prinz Lutfullah; vor allem aber hat er sich als Klavierlehrer des talentierten Malers Abdülmecid Efendi, des letzten Kalifen des Osmanischen Reiches, einen Namen gemacht.
Während seiner 38 Jahre in Konstantinopel bzw. Istanbul wurde Hegyei mit elf Verdienstorden aus verschiedenen Ländern ausgezeichnet, er beteiligte sich aktiv an den Aktivitäten der neu gegründeten Ungarischen Gesellschaft von Konstantinopel und trat während des Ersten Weltkriegs regelmäßig bei Benefizkonzerten der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften auf. Hegyei wurde von so bedeutenden Persönlichkeiten wie dem Dichter Nigar Hanım, Hassan – „dem Karikaturisten“ – oder dem in Paris verstorbenen ungarischen Maler André de Székely (Andor Székely) verewigt.
Er war einer der wenigen Ungarn, die während der Besetzung der Stadt durch die Entente-Mächte in Konstantinopel bleiben durften, bevor er nach der Ausrufung der Türkischen Republik 1923 die Möglichkeit erhielt, am Aufbau der Abteilung für westliche Musik am Istanbuler Konservatorium mitzuwirken. Als Ausdruck seiner Sympathie für Mustafa Kemal Atatürk komponierte er auch einen Marsch, der dem ersten Präsidenten und Gründer der Republik gewidmet war.
Sein Tod war ebenso unerwartet wie theatralisch: Nachdem er die Rückkehr des deutschen Botschafters Rudolf Nadolny in die Türkei nach dem Ersten Weltkrieg mit einem fulminanten Konzertauftritt im deutschen Botschaftspalast 1924 in Istanbul gefeiert hatte, brach Hegyei mit einem Glas Champagner in der Hand zusammen und nahm seinen letzten Atemzug in einem Hinterzimmer des festlichen Kaisersaals.
Einige Wochen später erwies ihm eine große Menschenmenge bei seiner Beerdigung auf dem katholischen Friedhof Feriköy in Istanbul die letzte Ehre. Seine Position als Universitätsdozent am Konservatorium wurde in Folge von seiner Frau Katalina Hegyei übernommen. Sie trat auch als Pianistin in die Fußstapfen ihres Mannes, der 35 Jahre lang regelmäßig auf der Bühne des Club Teutonia aufgetreten war: Nach seinem Tod spielte Katalina Hegyei noch bis in die späten 1930er Jahre auf der Teutonia-Bühne Klavier.
Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass der Club Teutonia ebenso sehr von Hegyeis Auftritten profitierte, wie er ursprünglich ein Katalysator für seinen beruflichen Erfolg als Musiker in der osmanischen Hauptstadt gewesen war. Während der Club Teutonia ursprünglich als Wohltätigkeitsverein von deutschsprachigen Kaufleuten und Handwerkern aus Böhmen im Jahr 1847 gegründet worden war, um notleidende Handwerksgesellen zu unterstützen, die den weiten Weg in die osmanischen Länder auf sich genommen hatten, entwickelte sich der Club Teutonia mit dem Bau seines größeren und eleganteren Steingebäudes, das mit einer Bühne im Herzen von Istanbuls Vergnügungsviertel Pera/Galata ausgestattet war, während Hegyeis Jahren in der Stadt zu einem angesehenen kulturellen Treffpunkt und Aufführungsort.
Zusammen mit dem Naum Theater, der Societá Operaia, dem Théâtre d’hiver des Petits Champs, der Union Française und dem Robert College zählte das Clubhaus Teutonia zu den wichtigsten öffentlichen Veranstaltungsorten für Musik- und Theateraufführungen in der osmanischen Hauptstadt. Mehrere Istanbuler Tageszeitungen, wie die französischsprachige Zeitung Stamboul und der zweisprachige Osmanische Lloyd, nahmen das Konzert- und Theaterprogramm des Club Teutonia in ihr regelmäßiges Angebot auf.
Die Aufführungen richteten sich zunehmend an ein größeres Istanbuler Publikum, das weder mit dem Club Teutonia noch mit den anderen Organisationen, die das Clubhaus für ihre Veranstaltungen nutzten, in Verbindung stand.
Nur wenige Jahrzehnte nach der Fertigstellung des 1897 eingeweihten ersten Teutonia-Klubhauses – dem heutigen Sitz des Orient-Instituts Istanbul – war die Bühne des Club Teutonia zu einem festen Bestandteil des Istanbuler Kulturlebens geworden und verdankte ihr Renommee herausragenden Interpreten der damaligen Zeit, wie dem ungarischen Pianisten und Hofmusiker Géza Hegyei.
Noch bis zum 7. Juni zeigt die Ferencs Liszt Akademie für Musik in Budapest im Rahmen der Festlichkeiten des Türkisch-Ungarischen Kulturjahres die zusammen mit Gábor Fodor und Evren Kutlay konzipierte Ausstellung “In the Footsteps of Franz Liszt. The Ottoman Court Musician Géza Hegyei & the Stage of Istanbul’s Club Teutonia”. Die Ausstellung wurde in kleinem Rahmen erstmals im Sommer 2023 im Klubhaus Teutonia gezeigt.
Die Ausstellungseröffnung mit Festkonzert wurde am 27. April in den festlichen Räumlichkeiten der Ferencs Liszt Akademie für Musik in Budapest gemeinsam mit dem HUN-REN Research Centre for the Humanities, der Botschaft der Republik Türkei in Ungarin sowie dem Yunus Emre Institut abgehalten. Die Ausstellung kann dort noch bis zum 7. Juni besichtigt werden.
Ausstellungsbegleitend erschien in Kooperation des Orient-Instituts Istanbul mit HUN-REN Research Centre for the Humanities ein gleichnamiger, zweisprachiger Ausstellungskatalog zur Leben und Karriere von Géza Hegyei, in der der Club Teutonia eine wichtige Rolle einnnahm. Der Katalog in englischer und türkischer Sprache ist kostenlos online abrufbar.
Publikationen zum Thema:
Evren Kutlay & Gábor Fodor: Osmanlı Sarayı’nda Bir Macar Piyanist: Géza Hegyei, Pera-Blätter. Max-Weber-Stiftung, Bonn, 2023. (Englische Fassung in Bearbeitung)
https://perspectivia.net/publikationen/pera-blaetter/kutlay_fodor_pera_40
Evren Kutlay, Gábor Fodor, Richard Wittmann (Eds.): In the Footsteps of Franz Liszt. The Ottoman Court Musician Géza Hegyei & the Stage of Istanbul’s Club Teutonia. Exhibition Catalogue, Clubhouse Teutonia, Istanbul, June 2023. Budapest: HUN-REN Research Centre for the Humanities & Orient-Institut Istanbul, 2024
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Citation: Wittmann, Richard. „Vom Bosporus an die Donau: Das Orient-Institut Istanbul bringt den ungarischen Hofmusiker Géza Hegyei und Club Teutonia an die Ferenc Liszt-Akademie für Musik in Budapest,” Orient-Institut Istanbul Blog, 31 Mai 2024, https://www.oiist.org/vom-Bosporus-an-die-Donau/