Der Klang des Unaussprechlichen – Autor: Martin Greve

Der Klang des Unaussprechlichen

Autor: Martin Greve

10. Juli 2020

Gemessen an ihrer Bevölkerungszahl ist es die zweitkleinste Provinz der Türkei: Tunceli, eine kleine, schwer zugängliche Bergregion, etwa 800 Kilometer östlich von Ankara. Gerade einmal 86.000 Menschen leben hier, auf einer Fläche, die halb so groß ist wie Thüringen. Wirtschaftlich ist die Region unbedeutend, Tourismus spielt keine Rolle. Und doch umgibt ein Mythos die Region und ihre Kultur: Dersim (so der alte Name der Region) gilt als ein schwer kontrollierbarer Ort des politischen Widerstandes, aber auch als Heimat einer alten Religion voller Mystik und Naturglauben. Vor allem aber ist der alte Name Dersim verbunden mit einem 70 Jahre lang verdrängten, düsteren Kapitel türkischer Geschichte.

Herausgegeben von der Stiftung für Geschichte (Tarih Vakfı) in Zusammenarbeit mit dem Orient-Institut Istanbul erschien nun eine 500 Seiten starke Monographie der Musik dieser Region, herausgegeben gemeinsam von dem langjährigen musikwissenschaftlichen Referenten am Orient-Institut Istanbul, Martin Greve, und der Dersimer Dokumentarfilmerin Özay Şahin.

Dersim liegt zwischen Zentral- und Ostanatolien, der große Keban-Stausee trennt die Provinz im Süden von Elazığ, dort fließen die beiden Quellflüsse des Euphrats zusammen. Es ist das Land des Munzur-Gebirges, das bis auf 3.000 Meter emporsteigt. Die Region unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht vom übrigen Ostanatolien: Aufgrund seiner geographischen Lage war Dersim bis ins frühe 20. Jahrhundert weitgehend autonom. Ein Großteil der Bevölkerung gehört dem Alevitentum an, einer anatolischen Konfession des Islam – im Südwesten der Provinz leben aber auch Sunniten. Für die Dersimer Aleviten sind die Sonne, Feuer, Wasser, bestimmte Berge und Flüsse heilig; viele vermuten den Ursprung ihrer Religion und Kultur überhaupt in dieser Region. Und ein Großteil der Bevölkerung spricht Zazaki, eine Minderheit Kurmandschi (Nordkurdisch). Lange hielt man beides für kurdische Dialekte, neue linguistische Forschungen jedoch sprechen eher von getrennten Sprachen – für den kurdischen Nationalismus ein heikles Thema. Linguistisch ist Zazaki demnach mit dem nordwestiranischen Gûranî verwandt. Und dennoch: Viele der etwa zwei Millionen Zazaki-Sprecher empfinden sich eher als „Kurden“. Hinzu kommt, dass in Dersim einst auch Turkmenen, vor allem aber viele Armenier lebten, von denen aber anscheinend viele schon vor dem Völkermord 1915 assimiliert wurden. Die Herkunft mancher Kurden – oder Zaza – ist hier also möglicherweise teilweise armenisch? Historisch gesichertes Wissen über Dersim ist spärlich; beinahe alles, was man liest und erzählt, ist politisch aufgeladen und überaus emotional.

Als türkische Musikforscher Anfang des 20. Jahrhunderts in anatolische Dörfer zu reisen begannen, ging es um die praktische Erschließung einer nationalen türkischen Volksmusik. Lieder in anderen Sprachen, Kurdisch, Lasisch oder eben Zazaki, tauchen in offiziellen Volksliedsammlungen bis heute nicht auf, Regionen mit ethnischen Minderheiten wurden bei Forschungsreisen eher ausgespart. Über „kurdische“ Musik und auch über die Musik von Dersim vor den 1960er Jahre wissen wir heute daher praktisch nichts. Nur ein einziger kurzer Forschungsbericht – alle dort abgedruckten Liedertexte sind auf Türkisch – beschreibt die archaischen Lieder von Dersim im Jahr 1937.

Im gleichen Jahr, 1937, aber geschah die Katastrophe. Noch immer hatte die Zentralregierung die Provinz damals nicht unter Kontrolle. Steuern wurden nicht bezahlt, was angesichts der Armut in Dersim aber kein großer Verlust war. Wie seit Jahrhunderten herrschten in Dersim Stämme – untereinander oft zerstritten – und religiöse Führer. Nun drängte die Regierung auf entschiedenes Vorgehen. Anfang 1936 wurde die Provinz unter Militärverwaltung gestellt und in Tunceli umbenannt. Das türkische Wort bedeutet wörtlich „bronzene Hand“ – und klingt nach: „Eiserne Faust“. Die Stämme sahen ihre traditionelle Unabhängigkeit ernsthaft bedroht. Ein eher lokales Ereignis, der Anschlag auf eine Brücke und gekappte Telefonverbindungen 1937, löste eine massive türkische Militäroperation aus, einige bewaffnete Stämme widersetzten sich, die Situation eskalierte. Schon bald hatte die waffentechnisch weit überlegene türkische Armee den angeblichen oder tatsächlichen Hauptverschwörer Seyit Riza gefasst, gemeinsam mit anderen Anführern wurde er im Schnellverfahren verurteilt und sofort hingerichtet. Die Grabstellen sind bis heute unbekannt.

Zahllose Dersimer hatten sich während der Kämpfe in Höhlen versteckt, nun durchsuchten Einsatztruppen die Berge, verschlossen vollbesetzte Fluchthöhlen oder entzündeten Brände an Höhleneingängen, um die Eingeschlossenen durch Rauchvergiftung umzubringen. Es kam zu Bombardierungen aus der Luft, ganze Dörfer wurden ausgelöscht. Was tatsächlich geschah, vor allem die Zahl der Opfer, ist bis heute nicht völlig geklärt. Nach offiziellen Angaben starben 12.000 Menschen, die Dunkelziffer aber liegt weit höher. Spätestens die folgenden massiven Umsiedlungen nach Westanatolien brachen endgültig jeden Widerstand. Tunceli blieb abgeriegelt, erst in den 1950er Jahren konnten Umgesiedelte zurückkehren, die Ereignisse von 1937/38 aber waren fortan tabu.

Als Deutschland ab 1961 Arbeitskräfte aus Anatolien anwarb, sahen auch viele Menschen aus Tunceli die Chance für ein neues Leben gekommen. In Deutschland existiert heute eine große Dersim-Gemeinde und mehrere „Dersim-Spor“-Vereine, die regelmäßig große Konzerte veranstalten, die auch Deutsch-Türken anderer Herkunftsregion anziehen. „Dersim“, der verbotene Name, wurde zum Codewort für latente Auflehnung – aber auch für Musik.

Das Leben in der europäischen Diaspora, wenngleich nicht ohne Schwierigkeiten, brachte für die türkeistämmigen Minderheiten Erleichterungen. Befreit von Verboten konnte sich Zazaki in Europa zur Schriftsprache weiterentwickeln. Die erste rein Zaza-sprachige Zeitschrift Ayre („Mühle“) entstand Mitte der 1980er Jahre in Schweden, es folgten weitere, auch in Deutschland, dann Bücher, seit einigen Jahren auch Sprachlehrbücher und Lexika. Auch die Musik aus Tunceli erlebte in der Diaspora Veränderungen. Zum einen versuchten viele Migranten aus Tunceli die alten Traditionen aufzunehmen und zu dokumentieren. Viele heute alte Musikaufnahmen stammen von solchen Musiksammlern aus dem Exil. „Alte Menschen singen Volkslieder aus Dersim“ heißt eine der CDs, herausgegeben von den Brüdern Metin und Kemal Kahraman, zwei bekannten Liedermachern. Kemal Kahraman lebt seit 1992 als politischer Flüchtling in Berlin. Tatsächlich klangen die Aufnahmen dieser alten Menschen archaisch. Formelhafte Lieder, dazu einfache zweisaitige Lauten, angeschlagen mit den Händen, ohne Plektrum. Die Stimmen sind kräftig, mal mit expressivem Vibrato, dann wieder rhythmisch frei, wie aufgeregt rezitierend. Markant ist der Klang der Zaza-Sprache, fast alle der Lieder sind vom spezifischen Alevitentum der Region geprägt.

Zum anderen aber entwickelten viele in Deutschland lebende Musiker aus solchen alten Musiktraditionen vollkommen neue Stile. Die Kahraman-Brüder begleiteten die Lieder mit europäischen Instrumenten, Mikail Aslan studierte an der Musikhochschule Mainz, Ahmet Aslan am Konservatorium Rotterdam, Taner Akyol an der Berliner Hochschule für Musik Hanns-Eisler. Sie und viele aus Tunceli sind mittlerweile in der Türkei bekannt geworden, Ferhat Tunc etwa und zuletzt die Sängerin Aynur, in Deutschland nicht zuletzt durch Fatih Akins Film „Crossing the Bridge “. In Ahmet Aslans Gesang hört man deutlich, wie sehr ihn die Sammlungen der alten Leute beeinflusst haben, in dem tiefen Aufseufzen am Ende von Melodien etwa, wie es alte Menschen tun, deren Kraft nicht mehr frisch ist. Bei Ahmet ist daraus ein Stilmittel geworden, archaisch und expressiv, das eigenartig kontrastiert zu den oft so europäischen Arrangements.

Die Berge von Dersim wurden in den 1990er Jahren erneut Schauplatz von Kämpfen und Zwangsräumungen, diesmal im Zuge des bewaffneten Konfliktes zwischen der PKK und der türkischen Armee. Dann wurde das alljährliche „Munzur Kultur-Festival“ von Tunceli ins Leben gerufen, bei dem schließlich selbst die Pop-Diva Sezen Aksu im Duett mit Mikail Aslan auf Zazaki sang.

Diese bewegte Geschichte der Region und ihrer Diaspora während der letzten 40 Jahre bilden den Gegenstand des neuen Buches über Musik und Musiker aus Dersim. Die Traumatisierung der Ereignisse von 1937/38, des Militärputsches 1980 und die Kämpfe der 1990er Jahre haben die Bevölkerung traumatisiert und auch in der Musik tiefe Spuren hinterlassen. Politische, ethnische und religiöse Identitäten beeinflussten die Musiker und ebenso die Erfahrungen von Migration.

Über 70 Musiker interviewten Martin Greve und Özay Şahin in Dersim, Istanbul und in verschiedenen Städten Europas, im Alter von 17 Jahren bis über 80, religiöse Führer, Instrumentenbauer, mehr oder weniger politische Liedermacher, populäre Sänger, lokale Musikforscher, Hochzeitsmusiker und Rapper. Für das Buch wählten die Autoren 25 Interviews aus, in denen Musiker ihre individuellen Lebensgeschichten und Erinnerungen erzählen. Dazwischen analysiert Martin Greve in 12 Kapiteln Musikleben und Musik vor dem Hintergrund der Dersimer Sozialgeschichte: religiöse Musik, Musik aus Dersim in Europa, Klagelieder, und schließlich das jüngste Revival, den neuen „Sound von Dersim“, in dem die alten Klagelieder von 1938 auf zeitgenössische Form erneut gesungen werden. Es ist die dritte Generation nach den Massakern, die heute in ihren Liedern endlich den unaussprechlichen Schmerz der Jahre 1937/38 ausdrücken kann.

Literatur:

Martin Greve & Özay Şahin: Anlatılamazı İfade Etmek: Dersim’in Yeni Sound’unun Oluşumu. İstanbul: Tarih Vakfı Yurt Yayınları, 2019.

Dr. habil. Martin Greve forscht und publiziert seit 25 Jahren zu Musik in der Türkei. Von 2011-2018 war er Wissenschaftlicher Referent am Orient-Institut Istanbul.

Citation: Greve, Martin. „Der Klang des Unaussprechlichen,” Orient-Institut Istanbul Blog, 10 July 2020, https://www.oiist.org/der-klang-des-unaussprechlichen/

Tunceli; Dersim; Turkey; ethnomusicology; 20th/21st century; publication; research project; OII-alumni; OII-Music